FAMILIE – Über das Leben mit einem Kind mit Downsyndrom
Auf dieser Seite berichtet Sabine Kusior fortlaufend über das Leben mit ihrer jungen Familie.
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Neuigkeiten vom Kleeblatt: Teil 19 – Fördern ohne zu fordern
Wir genießen Glühwein und Lebkuchen statt auf dem Weihnachtsmarkt auf der Bank im Freien.
Wir feiern Weihnachten im kleineren Kreis, nicht in großer Runde, wir gehen mit Freunden spazieren, anstatt uns zu Hause zu treffen und laden an Geburtstagen die Gäste in mehreren Etappen ein. Irgendwie hat man sich an das Leben mit den Corona-Einschränkungen allmählich gewöhnt. Café-Besuche und Abende im Restaurant sind umso mehr besondere Ereignisse geworden. Bei Benjamin war die Freude groß, dass nach kurzer Unterbrechung nun auch das Kindertanzen wieder stattfindet. Ich muss schon zugeben, dass ich mich jetzt, da wir in unserer Familie alle vier geimpft sind, sicherer fühle. Sogar Benjamin hat die Spritze gut weggesteckt und dafür eine Tapferkeitsurkunde bekommen!
So vergingen also die Monate ohne viel Aufregendes. Der normale Alltag aus Arbeit, Kindergarten und Schule hat uns im Griff. Benjamin macht Fortschritte und hat wieder einiges dazu gelernt in der letzten Zeit, auch wenn das meiste davon mit hartem Üben verbunden war. Das merke ich manchmal an Kleinigkeiten: Nachdem ich wochenlang mit ihm das Hüpfen geübt habe, kann er es nun und zeigt das nicht nur beim Tanzen zum „singenden und springenden Känguru“ (eines seiner Lieblingslieder von Volker Rosin). Im November durfte er im Kindergarten den St. Martin bei einer kleinen Aufführung spielen und wir als Eltern waren mächtig stolz!
Gleichzeitig sind die Tage mit ihm weiterhin sehr anstrengend. Denn einerseits kann er sich zwar allein gut beschäftigen, indem er Musik hört (er liebt seine Toniebox über alles) oder seine TUT-TUT-Autos die Rampe an der Parkgarage hinunter flitzen lässt. Aber er braucht auch nach wie vor viel Unterstützung. Sich waschen, anziehen, ein Brot schmieren, etwas zu trinken einschenken – alles Dinge, bei denen wir ihm helfen müssen. Immer, wenn wir ab und an mal etwas nur mit dem großen Bruder unternehmen, merken wir als Eltern, wie leicht es ist, mit einem „normalen“ Kind unterwegs zu sein. Unser Teenie braucht uns als Eltern allerdings immer weniger und so ist es irgendwie auch ganz schön, noch einen „Kleinen“ zu haben. Er kann jetzt „Mama lieb“ sagen, was mich sowieso alle Strapazen vergessen lässt!
Eine wirklich große Veränderung steht uns diesen Sommer bevor: Benjamin wird ein Schulkind!
Manchmal denke ich, ob er schon so weit ist, die behütete Umgebung des Kindergartens zu verlassen, in der er so viele schöne Erfahrungen sammeln konnte, und in dem aus einem kleinen Zwerg ein richtig toller Junge geworden ist? Der Abschied wird uns nicht leichtfallen.
Andererseits freue ich mich auf die neue Etappe in Benjamins Leben! Er wird sich sicher schnell eingewöhnen und auch dort die notwendige Unterstützung und Förderung bekommen, die er braucht, er wird Freunde finden und sich bald in seinem neuen Umfeld wohlfühlen, da bin ich mir ganz sicher!
Apropos Förderung: Schön ist, dass ich immer wieder feststelle, das Benjamin gerne „arbeitet“, wie er es nennt. Schon morgens kommt er zu mir, klopft mit seinen Fäustchen aufeinander (das ist die Geste für „arbeiten“) und fordert „Pi“ ein („Therapie“ ist ein zu schweres Wort). Niemals habe ich das Gefühl, dass wir ihn überfordern, immer ist er mit Spaß dabei. Und so üben wir Sätze wie „Ich habe Durst“ oder „Sophie malt“ (Sophie ist seine geliebte Freundin aus dem Kindergarten). An unserer Garderobe und in unserem Bad kleben kleine Symbole wie „anziehen“, „Rucksack“, „waschen“ und „Zähne putzen“. Die Stufen vor seinem Kinderzimmer zieren die Zahlen 1, 2, 3, 4 und 5 (bewegtes Lernen). Seine Mundtüte mit den Übungsmaterialien für die orofaziale Stimulation holt er oft hervor, ohne dass ich ihn dazu auffordere, und fängt an, zu pusten, zu tröten und zu pfeifen.
Wenn ich so darüber nachdenke, ist es schon bemerkenswert, wieviel Möglichkeiten der Förderung es neben den bekannten Ergo-, Logo- und Physiotherapieangeboten allein für die Diagnose Trisomie 21 heutzutage gibt! Dazu kommen Rehabilitationsmaßnahmen und weitere besondere Angebote wie Ferien mit behinderten Kindern sowie Fortbildungen für Eltern und Fachkräfte. Einige kennen wir nur vom Hören, viele haben wir schon ausprobiert und manche bereits wieder verworfen, denn es war nicht immer einfach, aus der Vielfalt das Passende auszuwählen (siehe Tipps im Kasten).
Aber das macht nichts. Das wichtigste ist für mich, dass wir stets versuchen, die besten Bedingungen für Benjamins Entwicklung zu schaffen und ihn zu fördern ohne zu überfordern. Ich bin gespannt, was aus unserem kleinen Kerl einmal werden wird!
Übersicht über Fördermöglichkeiten und Therapieansätze, die wir im Zusammenhang mit der Diagnose Trisomie 21 und der damit verbundenen Schwächen von Benjamin wie u.a. der Hypotonie und der Dyspraxie kennen gelernt und zum Teil schon ausprobiert haben bzw. praktizieren:
- Frühförderung; auch spezialisiert, z.B. Sehfrühförderung (über Frühförderung der Landesschule für Blinde und Sehbehinderte in Neuwied)
- PEp Praxis für Entwicklungspädagogik (www.pep-mainz.de/)
- Ergotherapeutisches Reiten
- Therapiezentrum Iven: Ergo-, Logo- und Physiotherapie, zusätzliche Bausteine wie u.a. Galileo-Training, Cranio Sacrale Therapie, Ernährungsberatung, Yes, we can! (www.gabriele-iven.de/)
- BuK Beratungsstelle für unterstützte Kommunikation (über Caritas-Förderzentrum St. Laurentius und Paulus in Landau)
- Motograps: Motopädie/ Grafomotorik/ Psychomotorik, Frank Lieberknecht (www.motograps.de/)
- Neurofeedback zur Verbesserung der Gehirnaktivität (z.B. über Therapiezentrum Iven)
- Verdit-Therapie von Dr. Anne Schulte-Mäter (www.vedit-therapie.de/)
- Castillo Morales: orofaziale Regulationstherapie (z.B. hier: www.castillomoralesvereinigung.de/)
- Galileo-Therapie (vor Ort oder z.B. auch über das Kölner Programm „Auf die Beine“, www.unireha.uk-koeln.de/kinder-jugendreha/behandlungskonzept-auf-die-beine/)
- neurofunktionelle Reorganisation nach Padovan (z. B. über Therapiezentrum Iven oder über diesbezüglich ausgebildete Physiotherapeuten, siehe: https://padovan-gesellschaft.de/?page_id=23)
- Bewegte Logopädie (www.bewegte-logopaedie.de/)
- TIN Total Nutrition Intervention, Dr Buchanan in Freiburg
- Lateraltraining, z.B. nach dem Warnke-Verfahren (über Logopädie-Praxen)
- Programm „Yes, we can! Mathematik“ (Rechentraining)
- Programm „Kleine Schritte“ (ganzheitlich)
Zum Durchschnaufen: Ferien mit behinderten Kindern
- villa-kunterbunt-ferien.dewww.tjarkshof.comwww.therapiezentrum.tirol/therapiebauernhof-tirol/Rehabilitation:
- Nachsorgeklinik Tannheim: Kardiologische Rehabilitation für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene
- Camps des Bundesverbands für herzkranke Kinder www.bvhk.de
- Kardiologische Rehabilitationsklinik Katharinenhöhe
- Rehabilitationsklinik Werscherberg für Kinder und Jugendliche mit Kommunikationsstörungen (https://rehaklinik-werscherberg.de/)
- Intensiv-Sprachtherapie in Lindlar (https://www.logozentrumlindlar.de/)
Fortbildungen:
- z.B. über das „Deutsche Down-Syndrom Infocenter (www.ds-infocenter.de/html/fortbildungen.html)
- Yes, we can! Mathematik
- Gebärdenunterstützte Kommunikation GuK
- Frühförder-Programm „Kleine Schritte“ und Früh-Lese-Methode
Neuigkeiten vom Kleeblatt: Teil 18 – Was ist denn schon NORMAL?
Diese Frage habe ich mir tatsächlich in letzter Zeit öfter gestellt, denn ich habe festgestellt, dass es vielen Menschen offensichtlich wichtig ist, dass alles ‚normal‘ ist. Doch was heißt das überhaupt?
Was ist denn schon ‚normal‘, wenn man die Vielfalt an unterschiedlichen Einflüssen, die unsere Gewohnheiten bestimmen, bedenkt: Kultur, Lebenserfahrungen, Schicksale, Ansichten, Vorlieben, Überzeugungen. Oder muss es heißen: WER ist denn schon ‚normal‘? Und ist es überhaupt sinnvoll, einem vermeintlichen Ideal des Normalseins hinterherzueifern?
Werfen wir mal einen Blick in das Wörterbuch:
„Normal heißt, so beschaffen und geartet zu sein, wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, Richtige vorstellt.“
Was aber ist das Richtige? Und ist das Richtige für alle gleich? Sicher nicht, denn so verschieden, wie wir Menschen sind, mit oder ohne Behinderung, so unterschiedlich müssen auch unsere Gewohnheiten und Lebenswege sein.
Im Gespräch mit einer Bekannten, die ebenso wie wir ein Kind mit Down-Syndrom hat, erzählte sie mir von ihrem Wunsch, dass ihr Sohn in eine ‚normale‘ Grundschule gehen soll. Auf meine Nachfrage hin, warum ihr das so wichtig sei, antwortete sie: „Ich möchte, dass alles so ‚normal‘ wie möglich ist!“ Damit ist sie sicher kein Einzelfall und es gibt wohl auch andere wie nur diese Situationen, in denen man sich wünscht, dass alles ‚normal‘ ist. Ich schließe mich auch gar nicht aus und erinnere mich zurück, wie ich vor vielen Jahren vor der Entscheidung stand, Benjamin in einen ‚normalen‘ Kindergarten zu geben oder eben in einen anderen, nämlich in einen inklusiven Kindergarten der Lebenshilfe. Wir haben uns für die ‚nicht-normale‘ Einrichtung entschieden, die für uns genau die richtige ist, denn jeden Tag wird dort auf Benjamins Besonderheiten eingegangen und es wird mit ihm auf einer Art und Weise umgegangen, die für ihn passt und die wir so schätzen.
„Der Wunsch nach Normalität erklärt sich aus dem Bedürfnis nach einem Leben unter sicheren Bedingungen.“
Stimmt, die Kindertagesstätte der Lebenshilfe habe ich damals erstmal kritisch beäugt, war doch der mir bereits bekannte Kindergarten meines großen Sohnes zunächst der sicherere. Zum Glück haben wir uns getraut, uns auf etwas Neues einzulassen!
Benjamin hat letztes Jahr eine Schulrückstellung bewilligt bekommen, doch nun stellt sich uns die Frage nach der richtigen Schule für unseren Kleinen allmählich auch. Ab dem neuen Kindergartenjahr ist er tatsächlich ein Vorschulkind, kaum zu glauben, wie die Zeit vergangen ist und die schönen Jahre im Kindergarten verflogen sind! Wir werden durch Benjamins Erzieherinnen gut beraten werden und finden für ihn ganz sicher die richtige Schule, sei es nun eine ‚normale‘ oder eben – und dazu haben wir uns eigentlich schon entschieden – eine an seine Bedürfnisse angepasste. Wir haben bereits eine Wunschschule im Blick und hoffen, dass sich dort ein Plätzchen für Benjamin finden wird…
Bei meiner Familie ist sicher auch sonst nicht alles ‚normal‘, zum Beispiel die Tatsache, dass Benjamin immer noch mit seinen sechs Jahren eine „Schlafbegleitung“ braucht, wie es die oben erwähnte Bekannte schmunzelnd genannt hat, die das gleiche Problem mit ihrem Nichtschläfer-Kind hat, wie wir.
Jeden Abend sitzen wir bei unserem Sonnenscheinchen, bis er eingeschlafen ist, denn ohne uns schafft er es offensichtlich nicht, den Weg ins Land der Träume zu finden.
Übrigens konnte ich gerade heute, als wir mit unseren beiden Kindern schwimmen waren, feststellen, wie viel an der Definition von ‚normal‘ auch Einstellungssache ist. Durch unseren großen Sohn hatten wir nämlich schnell eine kleine Gruppe Jungs und Mädchen mit an unserem Platz sitzen, Freunde von Florian. Alle schon vorpubertär und cool, dennoch ließen sie sich auf gemeinsames spielen mit Benjamin ein, denn sie kennen ihn nur so, für sie ist es ‚normal‘, wie er ist und es stellte kein Problem dar, dass er nicht auf Augenhöhe mitmachen konnte beim Ringe werfen, sondern seine Würfe kreuz und quer daneben gingen. Unter großem Gelächter gab es also Pommes und Eis und alles war so herrlich ‚normal‘!
Was gibt es sonst noch Neues?
Benjamin macht kleine Fortschritte, er wächst allmählich nun doch und sieht immer mehr aus wie ein großer Junge, wenn er mit seinem Rucksack auf dem Rücken mittlerweile ganz alleine und mächtig stolz auf sich zum Bus läuft, der jeden Morgen vor der Haustür auf ihn wartet. Außerdem hat er seit einigen Wochen eine Gaumenplatte wegen seines Kreuzbisses und obwohl ich dafür mit ihm nach Tübingen fahren musste, hat sich der Weg gelohnt, denn er akzeptiert sie gut und sie scheint perfekt zu passen! Auch eine neue Brille hat er, die nach einigem Hin- und Her nun auch auf seiner nicht ganz normalen Nase (Menschen mit Down-Syndrom haben meist einen besonders flach ausgeprägten Nasenrücken) gut sitzt.
Es läuft also im Moment ganz gut und die lang ersehnten Lockerungen in Zeiten der Pandemie aufgrund der niedrigen Fallzahlen sind endlich da! Es gibt wieder Gelegenheiten zum Kraft tanken und zum Durchatmen. Ich erinnere mich, dass ich beim Schreiben des vorhergehenden Artikels nämlich ziemlich gebeutelt war vom Alltag… Übrigens habe ich daraufhin einige zustimmende Nachrichten bekommen, weil ich wohl auf den Punkt getroffen habe, was viele denken, nämlich, dass es schwer ist, alles zu stemmen, manchmal gar zu viel ist.
Es tut offensichtlich gut, wenn man weiß, dass andere auch zu kämpfen haben und eben auch keine Super-Mamas sind. Ich denke, es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass es Kraft und Mut bedarf, nicht aufzugeben.
„Mut ist nicht immer laut und groß und brüllt wie ein Löwe. Mut ist auch die kleine Stimme in deinem Kopf, die abends zu dir sagt: Morgen probieren wir es nochmal!“ (Steve Santana)
Genießen wir also in diesem Sinne die schönen Zeiten, in denen es uns gut geht und alles ‚normal‘ läuft, auch wenn das NORMAL bei einigen anders ist als bei anderen!
Neuigkeiten vom Kleeblatt: Teil 17 – Große Gefühle am Welt-Down-Syndrom-Tag
21.3.2021: Welt-Down-Syndrom-Tag. Zum 7. Mal hat dieser Tag eine Bedeutung für uns, denn wir haben nun auch ein besonderes Kind. Ein Kind, das anders ist als die anderen Kinder. Ein Kind mit einem kleinen Extra.
An Tagen wie diesen hänge ich meinen Gedanken nach. Ich stöbere im Internet und finde viele Posts von stolzen Eltern und Videos, die glückliche Kinder zeigen. Jungs und Mädchen mit Trisomie 21, die so zufrieden und lebensfroh sind wie unser kleiner Benjamin. Ein Song mit folgender Liedzeile spricht mir besonders aus dem Herzen:
„Selbst die kleinen, schlichten Dinge muss man täglich hart trainieren“
(Welt Down-Syndrom Tag 2021: „Das Rezept“ Musikvideo, lebensfrohhoch3). Wie wahr!
Und mit dieser Erkenntnis macht sich die Sorge um unseren kleinen Sonnenschein wieder breit. Meine Gefühle schwanken zwischen unendlichem Stolz auf dieses Kind und hingebungsvoller Liebe sowie Wehmut und Erschöpfung, wie sie wohl auch andere Eltern eines behinderten Kindes nachempfinden können.
Vielleicht setzt mir in diesen außergewöhnlichen Zeiten der Corona-Pandemie auch all der andere Stress zu, der Verzicht auf so viele schöne Dinge im Leben, die fehlenden Kontakte…
Jedenfalls sitze ich hier mit einem Kloß im Hals und gestehe mir ein, dass ich müde bin.
Erschöpft von dem täglichen Trainieren selbst der kleinsten Dinge. Es ist alles so mühsam. Wir müssen ihn ständig zum Laufen motivieren, denn wir können immer noch
nicht einfach eine Runde spazieren gehen, der Kinderwagen ist weiterhin unser ständiger Begleiter. Mit ihm Sprachübungen zu machen (denn obwohl Benjamin großen Gefallen an Kommunikation hat, so gelingt es ihm trotz aller Bemühungen nicht, Wörter oder gar Sätze zu produzieren, die jeder versteht), ihn ständig zum Essen zu bewegen – all das zehrt. Seit 6 Jahren braucht er Unterstützung, Anleitung, Begleitung – und kein Ende ist in Sicht.
Die Last drückt auf meine Schultern und manchmal denke ich:
Dann ist es halt so!
Dann kann er eben nicht laufen, nicht sprechen und dann ist er eben viel zu klein und zu dünn für sein Alter!
Bei alldem Liebenswerten, was Benjamin hat und so bezaubernd, wie er ist, bleibt es eben doch einfach schwer. „Du brauchst eine Auszeit!“ höre ich dann von Freundinnen. „Nein“, sage ich, „wir brauchen einen großen Fortschritt!“ Wir brauchen Sätze wie „Benjamin kann jetzt essen! Allein und ganz normal vom Familientisch.“ Oder „Er kann nun laufen – und zwar ohne Wenn und Aber.“
Im nächsten Moment besinne ich mich: Benjamin gibt so viel und vor allem eins: Er gibt nie auf! Darf ich traurig sein, wenn dieses Kind so fröhlich durch die Welt spaziert, und alle ansteckt mit seinem Lachen? Darf ich aufgeben, wenn Benjamin immer wieder aufs Neue zeigt, wie tapfer er ist? Allein in diesem Jahr hat er schon zwei, wenn auch nur kurze, stationäre Aufenthalte hinter sich und eine Handvoll ambulante Besuche im Krankenhaus gemeistert. Auch seine größte Operation im letzten Jahr, die Wochen voller Bangen davor und die Genesungszeit danach, in der er erst wieder das Sitzen, Stehen und Laufen lernen musste, wird uns immer in Erinnerung bleiben. Deshalb denke ich: Nein, wir müssen stark sein, jeden Tag, aufgeben ist keine Option!
Benjamin ist ein Kämpfer und er hat es verdient, dass wir an seiner Seite stehen.
Auf jedem Weg von der Kinderklinik nach Hause denke ich mir: Das war wieder ein Kraftakt. Doch wir haben es mal wieder geschafft! Das schweißt uns zusammen als Team und macht mich als Mama stark! Benjamin lässt mich daran glauben, dass alles gut wird.
„Bist nicht perfekt für all die anderen, jedoch richtig für mich“, heißt es in dem schon erwähnten Song zum Welt-Down-Syndrom-Tag. Das ist es, was zählt, kleiner Benjamin! Doch er ist perfekt nicht nur für uns. Auch sein großer Bruder liebt ihn über alles und kündigt jetzt schon an: Benjamin darf später bei mir wohnen, ihr (mein Mann und ich) aber nicht!“ Kein Wunder, dass einer von den wenigen Sätzen, die Benjamin sprechen kann, lautet: „Bruder da?“ Doch nicht nur diese Frage wiederholt Benjamin mehrfach, auch sonst fühlt er sich am wohlsten, wenn alles seinen gewohnten Gang geht und sich Abläufe wiederholen: Imagine Dragons in voller Lautstärke morgens um kurz vor 6 Uhr aus der Toniebox, Schokobrei zum Frühstück, in der Kinderküche spielen, tanzen, spazieren gehen, Disney Junior im Fernsehen und immer die gleiche Gute-Nacht-Geschichte aus dem Buch mit den dicken Seiten – das ist Benjamin. Reduzierung auf das Wesentliche – was andere als Lifestyle entdeckt haben, praktiziert Benjamin schon seit langem und ist glücklich in seiner Welt.
„Wie ist er denn so?“ hat mich eine Krankenschwester gefragt, als ich vor einigen Wochen mal wieder an Benjamins Bett im Aufwachraum saß und darauf wartete, dass er die Augen aufschlägt.
Er ist bezaubernd und charmant, aber auch so anstrengend.
Er ist leicht zum Lachen zu bringen und wiederum ein echter Sturkopf. Er kann lautstark schimpfen, wenn ihm etwas nicht passt und oft verstehen wir ihn nicht, dann faucht er wie ein Löwe. Doch fast immer ist er glücklich und zufrieden. Ist es schließlich nicht das, was zählt?
Und so gehöre auch ich am Ende des Tages zur Gruppe der Eltern, die stolz auf ihre Kinder blicken, wie sie glücklich und zufrieden ihr Leben leben, unabhängig von der Zahl ihrer Chromosomen. Ganz im Sinne Albert Einsteins, der feststellte: „Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, ein erfolgreicher Mensch zu sein, sondern ein wertvoller.“
Neuigkeiten vom Kleeblatt: Teil 16 – Sechs Jahre danach
Als ich die Tage in der aktuellen „Leben mit Down-Syndrom1“ blätterte, las ich von dem Projekt Von Mutter zu Mutter. In dem seit dem Welt-Down-Syndrom-Tag 2020 veröffentlichten Heft geht es darum, das Mütter von Kindern mit Trisomie 21 einen Brief an sich selbst schreiben – Monate oder Jahre später nach dem Tag der Geburt. Es soll kein Ratgeber sein und auch keine Aufklärungsbroschüre, sondern ein Erzählen davon, wie sie es aus heutiger Sicht empfinden, das Leben mit einem behinderten Kind.
1 Leben mit Down-Syndrom Nr. 95/ September 2020, S. 11, 12, 13
Ich halte inne und denke nach. In diesen grauen Novembertagen, wo sich die Geburtstage meiner beiden Söhne nähern, erinnere auch ich mich nun zurück. Wie war das alles damals, als Benjamin auf die Welt kam? Und wie fühlt es sich heute an? So viele schöne Momente liegen zwischen dem Tag der Geburt, an dem wir auch direkt die Diagnose erfuhren, und heute. Doch auch so viel Schmerz galt es auszuhalten, seit unsere Familie um ein Mitglied reicher geworden ist und Benjamin mit einem Chromosom mehr und all seinen weiteren Besonderheiten zu uns kam.
Zunächst lief alles gut und Benjamin kam ohne Komplikationen auf die Welt. Doch schon nach wenigen Stunden rief die Hebamme einen Kinderarzt zu uns, denn der kleine Kerl wollte nicht so recht fit werden, irgendetwas schien nicht zu stimmen. Wir wurden in ein anderes Krankenhaus, eines mit Kinderklinik, verlegt. Zuerst Benjamin in Begleitung von seinem Papa, nach einigen Stunden dann auch ich. Ich erinnere mich an den Moment, in dem mir mein Mann, der die Diagnose vor mir bekam, mitteilte, was mit Benjamin war. Diesen Schmerz, den ich in jener Minute spürte, kann ich auch heute noch fühlen, denn er hat mir fast das Herz zerrissen. Ich höre mein Weinen und erinnere mich an die Trauer, diese Angst, vor dem, was kommen mag. „Ich kann das nicht!“ und auch „Ich will das nicht!“ Momente, die ich wohl nie vergessen werde.
Das alles ist fast sechs Jahr her. Heute bedauere ich oft, dass Benjamin nicht den Start ins Leben hatte, den er verdient hätte, sondern, dass er von weinenden, trauernden Menschen umgeben war. Doch ich konnte Benjamin von Anfang an lieben und tue es heute noch und zwar tausend Mal mehr als damals. Und ich weiß mittlerweile, was es heißt, mit einem behinderten Kind zu leben. Viele meiner Ängste waren unnötig, doch wir haben auch schwierige Zeiten durchlebt, die zu bewältigen ich nicht geglaubt hätte: Aufenthalte im Krankenhaus, die nicht enden wollten und in denen wir um Benjamins Genesung gekämpft haben. Aber dann sind da auch die vielen Momente, die mich so glücklich machen! Ich sehe Benjamin vor mir, wie er mir mit seinem Rucksack auf dem Rücken beim Abholen vom Kindergarten entgegenkommt und aussieht, wie ein richtig großer Junge. Ich fühle meinen Stolz, wenn ich ihm beim Wandern im Wald endlich auch ein Brot mit Hausmacher Wurst bestellen kann, welches er im Moment für sein Leben gerne isst – ein echter „Pfälzer Bub“ eben! Ich höre sein erstes zaghaftes „Mama“, das sich mittlerweile zu lautstarkem Rufen nach mir ausgebaut hat. Und ich fühle, wie sehr ihn auch sein großer Bruder liebt hat, wenn die beiden ganz versunken in der Playmobil-Welt miteinander spielen. Benjamin im Kindergarten vor einigen Wochen bei einer kleinen Aufführung zu sehen, erfüllte mich so sehr mit Freude, dass ich auch jetzt noch lächeln muss, wenn ich daran denke. Und nach wie vor ist es immer noch so schön, mit ihm an der Hand spazieren zu gehen, wenn er sich nicht mal wieder völlig bockig mitten auf dem Feldweg niederlässt und streikt. Schaue ich in das Gesicht meines Kindes und sehe die Diagnose? Nein, ich sehe einen wundervollen, kleinen Menschen! Gerade jetzt beim Schreiben dieser Zeilen taucht ein Bild von Benjamin in meinem Kopf auf, wie er mich anstrahlt, wenn er es mal wieder geschafft hat, sich nachts zu mir ins Bett zu schleichen und dann glücklich neben mir liegt.
Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß und fühle, hätte ich mir nicht so viel Sorgen um unser neues Leben zu viert, um uns als Familie, um meine Arbeit, um Benjamins großen Bruder und um tausend andere Dinge machen müssen. Das ist wohl die Botschaft, die ich allen werdenden Eltern mit auf den Weg geben würde. Eine Umfrage der Leben mit Down-Syndrom1 bestätigt mein Empfinden: 89,2% der Eltern gaben bei der Befragung an, dass „die schönen Momente mit ihrem Kind die Herausforderungen aufwiegen“ und „dass sie gemerkt haben, dass sie vieles schaffen können“ (61,3%). Vieles, um was ich bei Benjamin gebangt habe, hat sich früher oder später entwickelt. Keine Frage, der Alltag mit ihm ist anstrengend, aber er ist auch schön zu gleich!
Wie sieht er denn momentan aus, unser Alltag?
Seit August geht wieder alle seinen gewohnten Gang. Fast zumindest, denn einige Einschränkungen und Veränderungen gibt es natürlich aufgrund der Corona-Pandemie wie bei jedem auch bei uns. Benjamin geht wieder täglich in den Kindergarten, kann dort spielen und toben und erhält auch zum Glück wieder seine Therapien, die ihm nicht nur Spaß machen, sondern ihn auch merklich weiterbringen. Gerade vor kurzem bestätigten uns die Therapeuten und Erzieher im Entwicklungsgespräch unseren Eindruck, dass Benjamin seit dem Frühjahr einen richtigen Schub gemacht hat! Er scheint aufgeweckter und fitter zu sein, sein Laufen wird sicherer und sein Spielen aktiver. Er spricht nun eine Handvoll Wörter wie Buch, Apfel, Ball, Mama, Oma und auch seit neustem auch „Bruder“, denn Florian ist schon ein ziemlich schweres Wort! Er ist jetzt aufgrund der neuen Kinder, die in diesem Kindergartenjahr dazugekommen sind, auch nicht mehr der Kleine. In vielen Situationen wird ihm nun mehr Selbständigkeit abverlangt und das ist auch gut so. Benjamin kann sich nämlich mittlerweile selbst ausziehen und seine Schuhe und Jacke wegräumen genauso wie seinen Teller nach dem Essen abräumen. All das sind Kleinigkeiten, für uns als Eltern sind es jedoch riesige Schritte in die richtige Richtung, denn sie bedeuten für Benjamin Selbstbestimmung und Teilhabe. Wir haben eine Schulrückstellung für Benjamin beantragt, denn wir sehen, wie gut er sich entwickelt, wenn er mal keinen Krankenhausaufenthalt hat, der ihn wieder Monate zurückwirft. Wir sind fest davon überzeugt, dass ihm ein weiteres Jahr im Kindergarten helfen wird, daran anschließend den Übergang in die Grundschule gut zu meistern.
Doch bis dahin ist es noch lange hin und es bleibt abzuwarten, was die Zukunft für uns bringen wird. Jetzt freuen wir uns erst einmal auf Benjamins Geburtstag. Wenn der Tag gekommen ist, werden wir ihn feiern, diesen besonderen Jungen, der unser Leben so aufwühlt und bereichert zugleich!
„Wir müssen bereit sein, uns von dem Leben zu lösen, das wir geplant haben, damit wir in das Leben finden, das auf uns wartet.“ ((Oscar Wilde)
1 Leben mit Down-Syndrom Nr. 95/ September 2020, S. 6